von Hans Speck
Das "Haus am Rain“ stand mitten im Revier unserer "Schul-Gang“, auf der Nordostseite des Restaurants Rathaus, welches von den Eltern meines Schulfreundes Fred bewirtschaftet wurde. Beim "Schiitlispiel“ benutzten wir den Hügel Rain, um uns dort zu verstecken. Bewohnt wurde es zur Zeit, als wir Lausbuben das ganze Quartier unsicher machten, von der Familie Stadelmann. Sohn Kurt war etwas älter als wir, beteiligte sich trotzdem aber manchmal gerne an unseren Streichen, mit denen wir die Nachbarn oft an den Rand der Verzweiflung brachten. Die beiden Töchter Margrit und Ruth Stadelmann waren gute Freundinnen meiner leider viel zu früh verstorbene Schwester Käthi.
Das Haus am Rain gelangte aber leider im Jahre 2010 zu zweifelhafter Berühmtheit. Ein Bewohner sprengte an einem Samstag im August sein Haus und sich selbst in die Luft. Vom Haus selbst blieb nur die Fassade auf der Westseite stehen. Das Haus, respektive, die Trümmer, die nach der Explosion noch übrig blieben, wurden abgetragen. Der über Tage dauernde Medienrummel in Netstal beschäftigte Polizei und Feuerwehr nebst dem über mehrere Tage dauernden Einsatz zusätzlich. Seit 2016 steht dort, wo einst das Haus am Rain stand, ein moderner Wohnblock.
Zurück bleiben Erinnerungen an viele schöne Momente am und auf dem Rain. Herzlichen Dank an dieser Stelle an Margrith Ramsauer-Stadelmann, welche mir diverse Unterlagen zum Thema zugestellt hat.
Bauen vor Urzeiten
Bekanntlich bestand unser Dorf in der Ursprungszeit aus den drei selbstständigen Weilern Durschen, Leuzingen und Netstal. Die Geschichte berichtet uns, dass die Gemeinde im 16. Jahrhundert relativ rasch anwuchs. Es sollen bereits in dieser Zeit etliche Grundeigentümer ihre Wohnhäuser nicht mehr auf ihrem Boden, sondern auf jenem des Tagwens erstellt und somit die Grundlage für das Zusammenwachsen der einzelnen Weiler zu einem ganzen Dorfgebilde geboten haben. Das Bauen in dieser Zeitepoche wurde damals noch nicht nach den heutigen Grundlagen der Ortsplanung ausgeführt. Jeder suchte gerade den Platz aus, der ihm am meisten zusagte. Erst später wurden die Bauparzellen vom Tagwens-Ausschuss zugewiesen.
Die Siedlung am Kreuzbühl
Auf diese Weise soll nach Thürers Gemeindegeschichte eine kleine Ansiedlung beim Kreuzbühl entstanden sein. Eine dortige Häusergruppe wird erstmals im Jahre 1503 urkundlich erwähnt. Es darf aber mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden, dass die Siedlung älter ist. "Kreuzbühl“ heisst es, weil in früheren Jahren von diesem Hügel ein mächtiges Holzkreuz die Wanderer und Neuankömmlinge begrüsste und die Einwohner des Dorfes zu frommer Gesinnung mahnte.
Das Haus am Rain
Das grosse Wohnhaus zuoberst auf dem Kreuzbühl, welcher später dann Rain benannt wurde, wies die Jahreszahl 1584 auf. Es dürfte das Baujahr gewesen sein. Das Haus besass einen festen gewölbten Keller, der lange der einzige dieser Art in der Gemeinde war. Auf der Westseite des massiven Steinbaus prangte in der oberen Hälfte der bis an den Giebel reichenden Steinmauer, zwischen dem vorderen und dem mittleren Fenster im 1. Stock, in einer gut Halbmeter grossen Nische, vor der Witterung geschützt, ein altes, gemaltes Hösli-Wappen mit dem Fuss eines Hahns auf hellem Grunde. Es ist naheliegend und wird in der Geschichte auch bestätigt, dass das in der Wand eingelassene Wappen eines alten Bürgergeschlechts auf den Erbauer des Sitzes schliessen lässt. Aus einem Zeitungsausschnitt der damaligen Glarner Nachrichten ist zu entnehmen: Leider hat es seit dem Jahre 1920 niemand mehr für nötig gefunden, diese kleine, aber schmucke Exklusivität an einem der ältesten, aber leider sehr wenig beachteten Netstaler Häuser einmal aufzufrischen, so dass das historische Bijou leider der fortgeschrittenen Verblassung, dem Verfall und dem Verschwinden geweiht ist. Dies ist mehr als
nur bedenklich.
Exakt dieselben Zeilen könnten heute im Jahre 2016 in Anbetracht des Verfalls vieler geschichtsträchtiger Häuser hier in Netstal, beispielsweise am Rathaus, an der Lunde und am Rothaus, immer noch Verwendung finden. Es ist tatsächlich himmeltraurig, mit anzusehen, wie diese historischen Gebäude in Netstal dem Zahn der Zeit zum Opfer fallen. Seit dem Zusammenschluss der Gemeinden Ennenda, Glarus, Riedern und Netstal zur Einheitsgemeinde Glarus finden es weder die zuständigen Gemeindebehörden noch die Gebäudebesitzer für notwendig, diese Zeugen der Vergangenheit unserer Nachwelt am Leben zu erhalten. Die Stiftung Pro Netstal setzt sich mit aller Kraft ein, solche Objekte vor dem Verfall und Abbruch zu retten!
Der Löntsch war gefährlich
Das grösste Haus der Siedlung am Kreuzbühl wurde vermutlich auf den Hügel hinauf gebaut, um es vor den oftmals reissenden Fluten des damals noch ungebändigten Löntsch zu schützen, der auf verschiedenen Wegen seinen Weg zur Linth suchte. Da der ziemlich massive Bergsturzhügel wie ein Wall gegen diese Naturgewalten wirkte, wurde auch die zum Wohnhaus gehörende, heute gänzlich verschwundene Sennhütte an der Nordseite des Hügels gebaut. Einige Häuser im Dorf, die aus der gleichen Bau- Epoche stammen, weisen mit ihren abnormal festen und dicken Grundmauern ebenfalls auf die grosse Gefahr hin, die der Löntsch für Teile des Dorfes bedeutete.
Die Bewohner des Hauses am Rain
Über die einstigen Bewohner des Rain-Hauses weiss man eigentlich recht wenig. Paul Thürer berichtet, dass der 1588-1599 als Landschreiber und später auch Landammann vermerkte Heinrich Hösli das grosse Haus bewohnte. Hösli wird auch als Erbauer vermutet. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird ein Aebli als Eigentümer und Bewohner erwähnt. In den anderen rund um den Kreuzbühl entstandenen Häusern hatten sich Vertreter der Geschlechter Kubli und Müller niedergelassen.
Keine Wasserversorgung
Besonders Mühe bereitete damals den Bewohnern des Hauses auf dem Rain der Wasserbezug. Im damaligen Jahrhundert kannte man natürlich noch keine Wasserversorgungen. Am fortschrittlichsten waren in dieser Beziehung die Anwohner des Weilers Leuzingen, die im Jahre 1620 Trinkwasser in Holzteucheln von Riedern zu ihren vier Häusern leiteten. Die meisten Netstaler bezogen ihr Wasser aus der Linth. Diese wies damals natürlich noch keine derartigen Verschmutzungen auf wie heute. Der Mühlebach, heute Dorfbach genannt, wurde als Wasserbezugsort benutzt. Die Frauen auf dem Rain hatten also beim Wasserschleppen auch noch die Steigungen auf den Hügel zu überwinden. Wahrlich eine anstrengende Sache!
Seit 2016 steht dort, wo einst das Haus am Rain stand, ein moderner Wohnblock.