Meine Zeit als "Netschteler Samichlaus"

Text und Bilder von Hans Speck

Der Samichlaus tritt aus dem Buchwald, wo er wohnt, freudig erwartet von Kindern und Eltern.
Der Samichlaus tritt aus dem Buchwald, wo er wohnt, freudig erwartet von Kindern und Eltern.

 

Der Netstaler Samichlaus war damals und ist bis zum heutigen Zeitpunkt in ein rotes Bischofsornat samt Mitra eingekleidet und stets in Begleitung von zwei bis drei "Schmutzlis“. Damals waren die Netstaler Samichläuse gleichzeitig Aktivmitglieder der Katholischen Jungmannschaft. Oberster Schirmherr war der legendäre Pfarrer Josef Barmettler, ein zwar liebenswürdiger, gleichzeitig aber auch erzkonservativer Pfarrherr. Deshalb war ich selbst überrascht, dass ausgerechnet er mich zum "Bischof“ und obersten Netstaler Samichlaus auserwählt hatte, obwohl ich zugegeben nicht unbedingt eines seiner Lieblingskinder war. Warum Pfarrer Barmettler ausgerechnet mich zum "Bischof“ beförderte, weiss er allein, doch wird er sein Geheimnis auf Ewigkeit im Himmel behalten. Jedenfalls war ich nun plötzlich der höchste Samichlaus weit und breit, und dieser Umstand machte mich mächtig stolz.

 

Einmal hätten wir an einem Abend anfangs Dezember vier Familien mit Kindern verschiedenen Alters besuchen sollen. Mit Betonung auf sollen. Es lief halt wieder einmal anders als vorgesehen. Nachdem wir beim Katholischen Pfarrhaus, unserem Umkleidelokal, gestartet waren, ging’s schnurstracks zum ersten Kunden. Cescutti hiess die Familie und stammte aus unserem südlichen Nachbarland Italien. Die Familie wohnte in einem Haus direkt an der Landstrasse gleich neben dem ersten und einzigen Netstaler Ehrenbürger alt Landammann Dr. Fritz Stucki.

Das Familienoberhaupt, ein grossgewachsener, breitschultriger Italiener mit pausbackigem Gesicht empfing uns freundlich lächelnd und übergab mir die Sündenliste seiner Tochter. Leicht eingeschüchtert stand das kleine, schwarzhaarige Mädchen mitten in der Stube und hielt zitternd die Hand ihrer Mutter. Nun denke ich, war ich kein "böser“ Samichlaus. Ich begann einfühlsam und vorsichtig, dem Mädchen die "Leviten“ zu lesen. Es verlief eigentlich soweit alles optimal. Das liebe Kind trug sein Gedichtlein vor und wurde anschliessend von der Mutter ins Bett spediert, während der freundliche Gastgeber uns noch zu einem Glas Wein einlud. Ich mahnte meine Kollegen, dass wir eigentlich noch drei weitere Familien zu besuchen hätten. „Jännu“, wegen eines kleinen Gläschens ist noch niemand gestorben und auch der Samichlaus muss mal Pause machen. So sassen wir vier Chläuse in der warmen Stube von Cescuttis und der Hausmeister war eifrig daran, in der Küche feinen Salami zu schneiden. Dazu gab’s einen wärmenden Chianti. So verging die Zeit im Fluge und ich gab mittlerweile meinem Knecht Ruprecht Anweisungen, er solle den wartenden drei Familien mitteilen, dass etwas dazwischen gekommen sei und wir gleichen Abends nicht mehr vorbeikommen könnten. So wurde es dann in Cescuttis Stube immer gemütlicher. Die erste Flasche Chianti wurde durch uns vier Chläuse problemlos geleert und eine zweite durch den Chef des Hauses geöffnet. Mittlerweilen hatten wir uns der Bärte entledigt. Schliesslich lag ja die eben "abservierte“ Cescutti-Tochter im Tiefschlaf in ihrem Zimmer. Meinten wir, denn urplötzlich ging die Türe zur Stube auf und "weräli wer“ stand mitten in der Stube, umgeben von besoffenen Samichläusen. Mit grossen Augen und völlig desorientiert stammelte die Kleine nochmals ein „Buona notte“ und verzog sich, so wie sie gekommen war, blitzschnell wieder in ihr Gemach zurück. Zurück blieb die Frage: Glaubt sie nun weiter an den Samichlaus oder war das der letzte Besuch bei Cescuttis. Zurück blieb aber auch ein Riesenweinfleck auf meinem weissen Bischofsornat. Exakt dieser Weinfleck war anderntags für Pfarrer Barmettler Anlass genug, mich meines Amtes zu entheben und zum "Schmutzli“ zu degradieren. Wie grausam doch die ehrwürdige Geistlichkeit sein kann!

 

Eine weitere Episode war der Klausbesuch bei einer Familie am Bruggliweg. Nun war es so, dass die Eltern uns beim Hauseingang empfingen und uns eine Liste, man könnte auch sagen ein Sündenregister samt einem prallgefüllten Klaussäcklein übergaben. Das Sündenregister kam in das dicke, schwarze Messbuch, der Säcklein in den Sack von Knecht Ruprecht. So stand ich in der warmen Stube einer jungen Familie und musterte das kleine, aufgeweckte Mädchen und den kleinen Jungen, welcher den Tränen nahe war. Ich wendete mich erst dem Mädchen zu und ermahnte dieses, wie auf dem Sündenregister explizit erwähnt, es solle doch dem kleinen Brüderchen ein Vorbild sein und nicht immer mit ihm streiten. Die Antwort der Kleinen kam postwendend: „Samichlaus“, sprach sie beinahe ehrfurchtsvoll, „ich muess dr öppis säge. Weisch, mis Mami und dr Papi tüend au immer striite.“ Peng, das sass! Da stand urplötzlich der Netschteler Samichlaus mit abgesägten Hosen in der Stube. Was sollte ich daraufhin antworten? Für einmal blieb auch ich stumm, und das kommt bekanntlich eher selten vor. Ich konnte ja nicht antworten, dass das die Eltern dürfen. Die kleine Rotznase hatte mich in Sekundenschnelle selbst in den Sack gesteckt. Irgendwie fand ich trotzdem wieder aus dieser Sackgasse heraus und zwar nicht einmal schlecht. Ich habe der Kleinen gesagt, dass die Eltern selbstverständlich auch nicht immer streiten und ihren Kindern gegenüber Vorbilder sein sollten. So habe ich während der Zeit als Netschteler Samichlaus manchmal gedacht, das eigentlich manchmal eher die Erwachsenen statt die Kinder den Samichlaus bräuchten.

 

Maxli im Sack

An diese amüsante Geschichte erinnere ich mich so, als wäre sie erst gestern geschehen. Noch heute muss ich lachen, wenn ich das verdatterte Gesicht meines Knechts Ruprecht, alias Jenny Glaus, sehe. Es ist eine groteske Geschichte, ein Chlaussack voll Situationskomik!

Doch die Geschichte der Reihe nach: Unser "Opfer“ hiess Maxli. Maxli war der Sohn von Erna, der Schwester meines Göttis Chäpp Schmuckli. Erna hatte mich Ende November gebeten, bei ihrem Sohn Max als Samichlaus vorbeizukommen. Wir vereinbarten einen günstigen Termin. Ein eigentliches Sündenregister hätte sie gar nicht schreiben müssen, nur zu gut kannte ich Maxli, ein Lausbube im wahrsten Sinne des Wortes und vor allem nicht unbedingt der Folgsamste. Sein Sündenregister, schön säuberlich von seiner Mutter auf einem A4-Blatt festgehalten, war ellenlang. Am Schlusse der Aufzählungen hiess es ultimativ, sogar dreimal mit Ausrufezeichen

versehen: „Bitte, Maxli in den Sack stecken!!!“ Nichts, aber auch gar nichts Positives stand auf dieser ominösen "Anklageschrift“. „Er hat schon seine guten Seiten“, sagte uns Mutter Erna, eigentlich sei er ein ganz lieber Bub, doch sie möchte ihm wegen Ungehorsam ein für alle Mal einen Denkzettel verpassen, den er so schnell nicht vergesse. Schnell konstatierte ich, dass man den Samichlaus einmal mehr dazu missbrauchte, den Bösen zu spielen. Es macht manchmal den Anschein, wir Chläuse sollten ausbügeln was Eltern nicht schafften. Ich muss es ohne Umschweife zugeben, dass mir diese Aktion mehr als zuwider war, zumal ich den Maxli selbst ganz lieb hatte und er gerne in meiner Nähe war. „Warum muss der Samichlaus immer den Bösen spielen?“, war meine Frage.

So stand er nun vor mir, der liebe Maxli. Ich verlas ihm, wie von Mutter Erna geheissen, wacker die Leviten und am Schluss kam‘s für den Ärmsten knüppeldick: „Los Ruprecht, stegg ne i Sagg ine!“ Knecht Ruprecht machte das, was er machen musste. Mit Hilfe der beiden anderen Schmutzlis nahm er den weinenden und sich mit Händen und Füssen wehrenden Maxli am Arm und wollte ihn in den Sack stecken.

Und jetzt beginnt die groteske Geschichte: Maxli in seiner Not und Pein hielt sich am Bart von Knecht Ruprecht fest, und schön langsam, in Slow Motion, verschwand Maxli samt Bart von Ruprecht im Sack. Nun war es so, dass die Schmutzlis jeweils ihr Gesicht mit Russ schwärzten. So hatte der liebe Maxli von der Demaskierung

unseres Chef-Schmutzlis in seiner Aufregung und Angst gar nichts mitbekommen. Ich jedenfalls machte dem Spuk ein Ende und befahl, Maxli wieder aus dem Sack zu lassen, nicht ohne vorher ihm das Versprechen abzuverlangen, von jetzt an ein lieber Bub zu sein. Maxli bedankte sich mit tränenden Augen und

hochheiligem Versprechen. Ein paar Tage später begegnete er mir auf der Strasse beim Spielen und ich fragte ihn, wie es denn mit dem Samichlaus ausgegangen sei. „Ja, das war ein ganz lieber und er hat mir viel Nüsse, Chlauschrämli und Mandarinen gebracht.“ Was für eine Aussage eines kleinen Jungen, den man einen

Tag zuvor in Angst und Schrecken versetzt hatte und der einen Tag später den Samichlaus als lieb bezeichnete. Im Nachhinein stellte ich mir die Frage, warum wir damals nicht seine Mutter in den Sack gesteckt hatten!  

 

Immer mit dabei am Klausumzug ist der Netschteler Samichlaus inklusive Entourage.
Immer mit dabei am Klausumzug ist der Netschteler Samichlaus inklusive Entourage.