Die Lawinen am Wiggis

von Jakob Kubli

 

Die Lawinen gehören zu den grossartigsten Erscheinungen unserer Alpenwelt. Aber nur wenige in der Schweiz können die Lawinen so schön beobachten wie die Netstaler an ihrem Wahrzeichen, dem Wiggis. An den Wänden und Bändern des westlich vom Dorfrand fast senkrecht aufsteigenden imposanten Berges findet der Schnee kaum Halt. Ein Wetterumschlag oder sogar eine Sprengung im Steinbruch der Kalkfabrik kann genügen, um eine Lawine auszulösen. Zwischen Wiggis und Rauti türmt sich der Schnee im Laufe des Winters viele Meter hoch auf. Der leichte und lockere Schnee, der von starken Winden verweht wird, bildet auf dem Grat hohe, überhängende Wechten. Von diesen brechen hin und wieder Stücke ab und lösen kleinere Lawinen aus. Wenn aber die Wechte zum Beispiel bei einem Wärmeeinbruch in der ganzen Breite abbricht und sich wallend über die Hochwand ergiesst, bietet sich den Bewohnern und Passanten von Netstal ein einzigartiges Schauspiel. Aber nicht immer sind die Staublawinen harmlos. Oft brausen sie über das Dorf hinweg und verpudern die Häuser. Der Luftdruck grosser Lawinen richtet hin und wieder Schäden an. Bäume werden entwurzelt und geknickt, Fensterscheiben eingedrückt oder sogar einmal ein Stall- oder Hausdach abgedeckt. Die Bewohner früherer Zeiten haben ihre Wohnbauten und Ställe stets an lawinensicheren Standorten gebaut und die Nähe des Wiggis gemieden, so dass es – von einer Ausnahme abgesehen – in Netstal noch nie Lawinenopfer gegeben hat. Der grösste Teil der Wechten bleibt meistens bis weit in den Sommer hinein in der Wiggissenke erhalten und speist die Altigerrunse.

Grundlawine am Wiggis   Fotos: Hans Speck
Grundlawine am Wiggis Fotos: Hans Speck

 

Die Grundlawinen stürzen meistens im Frühling ins Tal, wenn sich der Schnee gesetzt hat und durch Regen und Sonne schwer geworden ist. Riesige Schneemassen stürzen nun polternd in die Tiefe und reissen Erde, Steine und Stauden mit sich. Am Wiggis gibt es ein paar "Züge“, in denen Jahr für Jahr die Grundlawinen zu Tale fahren. So in der Butzi, im Blänggli, im Altiger und im Ädi. Deshalb kann dort der Wald nie recht aufkommen. Ende der Fünfzigerjahre stiess die Butzilawine einmal bis zur damaligen Druckleitung des Löntschwerkes vor und legte den prächtigen Buchenwald um. Ein Arm des Lawinenkegels reichte bis zur Durschenstrasse und zu den ersten Häusern in der Rütigasse.

Lawinenkegel Butzi bis Rütigasse Foto Jakob Kubli
Lawinenkegel Butzi bis Rütigasse Foto Jakob Kubli