D'Staublaui chunnt!

Text und Bilder von Hans Speck

 

Die Netstaler leben seit jeher mit ihren Lawinen; Urgewalten, welche schon manchen Schamauch“ allein schon beim Erzählen in Angst und Schrecken versetzten. Für die Bewohner des Dorfes am Fusse des Wiggis gehören diese spektakulären Naturereignisse schon beinahe zur Gewohnheit. Der Gefahren bewusst, begegnen die Menschen im "Lauidorf“ diesen Naturgewalten mit grossem Respekt, aber trotzdem mit stoischer Ruhe. Schon in der Schule lehrt man die Kinder, wie sie sich verhalten sollen, falls sie einmal in eine Staublawine geraten. Da heisst es, sich sofort auf den Boden legen, mit den Armen oder Händen den Kopf schützen und versuchen, die Atemwege einigermassen frei zu halten. Vor allem die Ruhe bewahren, auch wenn wegen der Druckwelle im ersten Moment das Atmen schwer fällt. Wenn die Zeit noch reicht, sich in einen Hauseingang oder einen Unterstand retten. Doch meistens ist es zu spät. Die Staublawine kommt schnell, sehr schnell sogar und vor allem lautlos wie ein schleichendes Gespenst mit riesigen Armen, wie eine Krake, breit um sich greifend, kalt und zerstörend. Wann besteht die Gefahr eines Niedergangs? Mit mathematischer Sicherheit, vor allem dann, wenn es über Tage ununterbrochen geschneit hat, lösen sich an den Hängen der Wiggiswand, manchmal von selbst, ungeheure Mengen aus Schnee, Eis und Geröll – ein nicht ganz ungefährlicher Mix, bei dem es schon Verletzte gab und welcher grosse Sachschäden verursachte. Tote gab es zum Glück in all den Jahren nie zu beklagen. Diese für Auge und Ohr spektakulären Naturereignisse können im Winter und zu Beginn des Frühlings im Einzugsgebiet des Wiggis immer wieder beobachtet werden. Kleinere Rutsche - die Netstaler reden in diesem Fall von einer „Schnurrä voll“ - und gewaltige Abbrüche lösen sich auf der gesamten Länge entlang des Wiggis-Rauti. Eine der gefährlichsten Lawinen ist jene, welche sich oberhalb der Auernalp vom Arschband löst und entlang der Butzi-Runse mit ungeheurer Gewalt ins Tal fällt. Bei dieser Lawine gab es schon, ich mag mich gut daran erinnern, Firnzungen, welche sich gefährlich nahe bis wenige Meter dem Schiesstand und den ersten Häusern an der Rütigasse näherten. Für die Bevölkerung eher weniger gefährlich ist die "Plänggli-Laui“, welche über die ganze Länge der riesigen Plänggli-Wand ins Tal fällt und am Ende der Wand einen riesigen Firn aufbaut. Die berühmteste und zugleich berüchtigtste ist aber definitiv die "Altiger-Staublaui“, welche jeweils lautlos und mit zerstörerischer Kraft mitten durch das Dorf Netstal braust und auf der anderen Talseite beim Elggis wieder zurückgeschlagen wird. Spektakulär und eindrücklich sind immer wieder die weit weniger gefährlichen Grundlawinen. Mit viel Getöse kündigen diese jeweils den Frühling an. Da bilden sich dann jeweils am Fusse beim Altiger-Hügel, bei der Ädi-Runse und bei der Brand-Runse riesige Firnfelder aus kompaktem Schnee, Geröll und Eis. Schon manchmal kamen im Frühling zu Beginn der Schneeschmelze sogar tote, vom Firneis konservierte Gämsen zum Vorschein.

 

Die nachstehenden Erzählungen und Erlebnisberichte sollen ein Versuch sein, den Lesern die ungebändigten Kräfte, welche die Natur, im Speziellen diese Lawinen entfalten, ein wenig spüren zu lassen.

 

Staubiges Erlebnis eines Deutschen

Es war an einem wunderschönen, klirrendkalten Sonntagmorgen im Januar irgendwann in den 60-er Jahren. Die 1800 Meter hohe Wiggis-Wand, samtweich von der Morgensonne beschienen, zeigte sich in atemberaubender Schönheit. Mein Schulkamerad Angelo und ich traten durch das Aussenportal der Netstaler Dreikönigs-Kirche - der Sonntags-Gottesdienst war eben mit dem Segen von Pfarrer Barmettler zu Ende gegangen - als sich hoch oben beim "Oberen Bockband“ eine Lawine loslöste. Langsam immer grösser werdend, bewegte sie sich majestätisch über die "Liichbrittern“ in Richtung "Höchwand“. Wir beide erkannten sogleich, dass es sich bei dieser Lawine um ein grösseres Kaliber handelte und sie das Potential hatte, durch unser Dorf zu brausen, um dann an den Hängen des Elggis wieder zurückgeschlagen zu werden. Dies war Grund genug, uns beim alten Konsum in Sicherheit zu bringen. Dieses einmalige Naturschauspiel wollte sich ein Fahrzeugführer in einem dunkelgrünen VW-Käfer mit deutscher Immatrikulation natürlich nicht entgehen lassen. Schleunigst behändigte er auf dem Beifahrersitz eine Filmkamera und wollte dieses nicht alltägliche Ereignis auf Zelluloid bannen. Dazu positionierte er sich vor der offenen Beifahrertüre. Wir sahen, wie die Staublawine auf dem Altiger-Büchel aufschlug und die gewaltigen Schneemassen sich kurz auftürmten und mit unglaublichem Tempo Richtung "Vorämbüel“ bewegten. Schon war der Stall im "Chilchäguet“ nicht mehr zu sehen. Wir brachten uns beim Haupteingang des Konsums in Sicherheit und schon war sie da, die berühmt berüchtigte Altiger-Staublaui. Es wurde urplötzlich stockdunkel, die Druckwelle nahm uns beinahe den Atem. Als Schulkinder hatte man uns gelehrt, falls man jemals in eine Staublawine kommen sollte, sich auf den Boden zu legen und im Schutze der Arme sich Mund und Nase abzudecken, damit man trotzdem einigermassen atmen konnte. Der ganze Spuk war nach kurzer Zeit vorbei. Der Schneestaub hatte sich mittlerweile verzogen. Zurück blieben die mit betonhartem Schnee verklebten Häuser im Zentrum von Netstal. Doch wo blieb unser deutscher Fahrzeugführer. Besorgt kamen wir aus unserer Deckung. Was wir zuerst sahen, waren zwei Füsse, die aus der Beifahrer-Türe ragten. Wir gingen hin zum innen und aussen komplett mit Lawinenschnee bedeckten Auto. Da lag unser VW-Mann rücklings in seiner ganzen Länge auf dem Beifahrersitz, völlig verstört und in Schockzustand in seinem mit betonhartem Schnee verklebten VW-Käfer. In der Zwischenzeit stiessen noch weitere Kirchengänger dazu und halfen dem Unglücksraben wieder auf die Beine. Ob aus dem Staublaui-Film etwas geworden ist, weiss niemand. Bestimmt wird sich aber unser Freund aus dem grossen Kanton mit Schaudern an dieses staubige Naturspektakel in Netstal zurückerinnern.

 

Grösstes Lawinenunglück im Jahr 1817

Gefährlich für das Dorf Netstal werden oft nach starkem Schneefall die mächtigen Lawinen, die von den steilen Felswänden des Wiggis herabfallen. Die Schlimmste, von der wir Kunde haben, war diejenige im Jahre 1817. Ein Augenzeuge schildert dramatisch das Ereignis mit folgenden Worten:

(Text aus "Bilder aus der Geographie und Geschichte des Kantons Glarus“ - Lesestücke für die Mittel- und Oberklasse der glarnerischen Primarschule 1906).

„Wir Kinder gingen morgens um acht Uhr zur Schule. Der Schnee lag fusshoch. Es schien, als wäre Regenwetter im Anzuge. Alles hatte Furcht vor Lawinen. Kaum waren wir eine halbe Stunde im Schullokal im oberen Stock des sogenannten "Stüblihauses", als plötzlich mit donnerartigem Gekrache stockfinstere Nacht eintrat. Wir meinten, der jüngste Tag wäre gekommen und weinten und heulten fürchterlich. Als es wieder hell wurde, sahen wir, dass unser Schulhaus seines Daches beraubt und das Treppenhaus weggeschleudert worden war, sodass wir Kinder vermittelst Leitern herunter gebracht werden mussten. Und welchen Anblick bot uns das ganze Dorf dar! Die meisten Häuser waren teilweise zerstört. Hunderte von Bäumen waren entwurzelt und weit von ihrem Standort weggetragen. Der Schaden wurde amtlich auf 150‘000 Franken heutiger Währung geschätzt. Von dieser grossen Lawine des Jahres 1817 wird man nach hundert Jahren noch reden.“

Leider war auch ein Menschenleben zu beklagen: Das Kind Katharina Leuzinger wurde am Fenster in der Stube erstickt aufgefunden  (für Details zu dieser Information hier klicken).

 

Gewaltige Schäden im Jahr 1973

Mittlerweilen sind fast zweihundert Jahre vergangen und wir erinnern uns erneut an dieses, für Netstal grösstes Lawinenunglück. Es gab immer wieder Lawinen-Niedergänge, die kleinere und grössere Schäden an Kulturen und Objekten anrichteten. Viel Glück hatten die Netstaler an einem Samstagmorgen im Februar 1973, als kurz vor acht Uhr morgens eine gewaltige Staublawine im Dorfzentrum riesigen Schaden anrichtete.

 

In der Chronik "100 Jahre Feuerwehr Netstal" ist dazu zu lesen:

 "Gleich der Anfang des neuen Jahres hatte es in sich: Von einem speziellen Ereignis erzählt heute noch unser damaliger Spätheimkehrer und eifrige Feuerwehrmann Sigi L., als an einem Februar-Samstag im Jahre 1973 um acht Uhr morgens sein eben begonnener Schlaf jäh wegen einer durch das Dorf brausenden Staublawine unterbrochen wurde. Mit unglaublicher Gewalt wurde das Dach über seinem Kopfe einfach weggefegt. In Mitleidenschaft gezogen wurden auch die Häuser in der Nachbarschaft. Zum Glück gab es weder Tote noch Verletzte. Einzig das Brummen des Schädels von Sigi und sein veritabler Kater nach durchzechter Nacht gebrauchten anschliessend noch die entsprechende Pflege. Schuld an seinem Unwohlsein waren aber weder die Netstaler Staublawine, noch das auf dem Postweg liegenden Dach. Für die anschliessenden, aufwendigen Aufräumarbeiten und die Notbedachungen war die Feuerwehr Netstal zuständig."

 

Lawinenschäden im Jahre 1973
Lawinenschäden im Jahre 1973

 

Schäden auf dem Sportplatz

In den Jahren 1973 und 1986 richteten Staublawinen im Schulhaus und an den Sportanlagen auf der Hintern Allmeind Schäden an. Die Ballfänger beim Sandplatz und auf dem Fussballplatz wurden schräg gedrückt. Der Besitzer eines Grillwagens fand sein Gefährt rund zweihundert Meter vom ursprünglichen Standort entfernt zerstört bei der Friedhofmauer wieder. Ungeheure Kräfte müssen hier gewütet haben. Die Lawinen beschädigten auch das neue Schulhaus, in dem die Oberlichter aufgedrückt wurden und in allen Schulzimmern und in den Gängen Schnee lag, so dass der Schulbetrieb im neuen Schulhaus nicht möglich war. Ein Mädchen erlitt eine Schnittwunde von einem Glassplitter, weil ein Baum, der von der Lawine auf das Schulhaus geworfen wurde, ein grosses Fenster im Gang zertrümmert hatte.