Der starke Leuzinger
Er hiess Fridolin und lebte von 1686 bis 1750 in Netstal. Seit dem'langen Riebing', der vor Zeiten die Rotte des 'Teufels von Seedorf' mit einer ausgerissenen Tanne in die Flucht gejagt hatte, hatte man im Glarnerland keinen so starken Mann ge-sehen. Seelenruhig schob Leuzin-ger ganze Heufuder ab der Strasse, schlug wildgewordene Stiere mit einem einzigen Faustschlag nieder und hielt vollblütige Hengste im grössten Sprunge auf. Doch wandte er seine Bärenkräfte nur an, wenn es wirklich nötig war, und galt sonst eher als ein bescheidener, schüch-terner Mann.
Zur selben Zeit wohnte in Teufen der Appenzeller-Ueli, ein Gewaltsmensch, der konnte mit seinen 'Knödli' tiefe Löcher in die eichenen Wirtshaustische klopfen. Nicht umsonst prahlte er, der
stärkste Mann im Säntisgebiet zu sein. Den wurmte es, als er von dem
starken Leuzinger vernahm, und er beschloss, mit dem Zigermannli einen
Hosenlupf zu machen.
Am Abend des folgenden Tages, die Vesperglocke läutete eben, sah man den Appenzeller über den Löntschsteg heranschreiten. "Säb isch
Netstal?",fragte er einen grossen Mann, der eine Brente auf dem Rücken trug
und auf einem Baumblatt ein Liedlein pfiff. Der Gefragte
nickte. "K'höscht, häsch gad kä Gosche? Wänn d'näbis derigs häscht, so säg mer, ob dä Gottsdonder, de starch Löziger, dehäme ischt!" Der andere bemerkte trocken, es
gebe eben in Netstal viele Leuzinger,aber keiner sage, er sei besonders stark. "De
wäscht bim Tüfel nöd, ob du selber Jokeb oder Chasperli hässt, wännd nötz vom starche Löziger wäscht!", rief ärgerlich der
kampflustige Appenzeller und erzählte, weshalb er express ins Glarnerland
gekommen sei. Der Brentenmann lächelte still vor sich hin und entgegnete nach einer Weile, er wisse jetzt wohl, wen der Appenzeller meine: niemand
als seinen eigenen Bruder. Freilich sei er zu Hause. Dann fuhr der
Bauer fort: "Komm, guter Freund, mach zuerst mit mir einen Hosenlupf.
Magst du mich, so kannst du's viel eher mit meinem Bruder wagen, denn ich
bin nicht viel schwächer als er." Damit war der Appenzeller
einverstanden, und beide Männer stülpten die Hosen und Ärmel hoch. Der Kampf
begann.Mit einem wütenden Ansturm fuhr der Ueli auf den Gegner los, der
aber keinen Wank tat, sondern den Widerpart fest an sich drückte. Wie eineZange zogen die sehnigen Arme zu und zu, dass es dem Appenzeller
angst und bang wurde. Krebsrot wurde er und zappelte wie ein gefangener
Fisch. Da - mit einer raschen Körperwendung schmiss der Netstaler den starkenUeli auf den Rasen und presste ihn fest. "Bist zufrieden,
Appenzeller?" "Lass mich auf", kam es knirschend aus dem schäumenden Mund. "Dein
Wille geschehe", lächelte der Glarner und liess los. Wie eine
Haselgerte schnellte der Appenzeller auf und schoss keifend und fluchend auf
den andern los. Dieser aber packte ihn oben am Kragen und unten an
den Hosen, warf ihn wie ein Pfund Dreck der Länge nach hin und klopfte
die Lederhösli, als ob es ein Beefsteak wäre. Dann schüttelte er
den Appenzeller wie einen unfolgsamen Schulbuben und belehrte ihn:
"Wenn du wunderst, wer ich bin: gut ich bin der 'starke Leuzinger' selber, habe mich aber nie so genannt, weil ich's für eine Eselei halte, mich
der Stärke zu rühmen, die eine Gabe Gottes ist. Geh heim und brauch deine Arme und Fäuste zu nützlicher Arbeit und nicht zu
Narrenwerk."
Die Geschichte wäre wohl nie bekannt geworden, wenn sie nicht der Fridli Leuzinger selber seinen Enkeln erzählt hätte, um sie vor stumpfsinniger Vergötterung roher Muskelkraft anzuhalten.