Von Kurt Meyer
In den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts war der Lehrermangel genauso prekär wie im Jahre 2022. Im November 1964 besuchte ich die evangelische Mittelschule in Schiers im Prättigau. Da ich im Frühjahr 1965 meinen Abschluss als Lehrer machen wollte, war es an der Zeit, mich nach einer Anstellung umzusehen. Ich machte mir aber keine allzu grossen Sorgen, weil ich wusste, dass man an vielen Schulen froh war, wenn sich überhaupt jemand auf eine Stellenausschreibung meldete. Am gleichen Seminar wie ich studierte auch eine junge Frau aus Diesbach, die sich an zwei Orten für eine Stelle beworben hatte. Sie hatte eben den Bescheid erhalten, dass sie sowohl in Filzbach als auch in Netstal angestellt würde. Sie entschloss sich für Filzbach und sagte mir, dass ich mich doch in Netstal melden solle. Dies tat ich dann auch und telefonierte dem damaligen Schulpräsidenten namens Brunner. Ich wollte mich erkundigen, was ich nebst dem Bewerbungsschreiben alles nach Netstal schicken musste. Der freundliche Herr Brunner erklärte mir, dass am Abend eine Schulratssitzung stattfinde und ich ihn doch am nächsten Tag wieder anrufen solle. Gespannt rief ich am nächsten Tag aus der Telefonkabine der Schule – Handy gab es noch keine – den Schulpräsidenten von Netstal an. Ich hatte bewusst genügend Kleingeld bei mir, so dass ich bei einem längeren Gespräch hätte Geld einwerfen können, um so einen Gesprächsunterbruch zu verhindern. Auch einen Schreibblock hatte ich dabei, um allfällige Notizen machen zu können. Herr Brunner meldete sich freundlich und erklärte mir, dass ich an der gestrigen Schulratssitzung als Lehrer gewählt worden sei. Ich könne im Frühjahr 1965 eine vierte Klasse übernehmen. Er werde mir noch eine Einladung für das Lehrer/Schulrats-Essen im Frühling schicken. Welche Formalitäten noch zu erledigen seien, werde er mir an diesem Anlasse noch sagen. So musste ich weder eine Probelektion halten noch ein Zeugnis einreichen. Einen Abschluss hatte ich eh noch keinen, weil die Prüfungen erst im März abgelegt werden mussten. Erfreut und zufrieden über den Bescheid bedankte ich mich für das Vertrauen und hängte den Hörer auf.
Für das Lehrer/Schulrats-Essen bekam ich nach dem Vorweisen des Einladungsschreibens von der Seminarleitung Urlaub und reiste im März 1965 nach Netstal. An der Eingangstüre des Restaurants Bären hing ein Zettel: Geschlossene Gesellschaft. Dies musste die Gesellschaft sein, zu der ich eingeladen war. In der Gaststube standen Personen in zwei Gruppen beieinander. Die eine Gruppe bestand ausschliesslich aus Herren in Anzug und Krawatte. Dies war offensichtlich die Schulbehörde. Bei der anderen Gruppe, etwas lockerer gekleidet, gab es auch Frauen. Dies musste die Lehrerschaft sein. Ein Mann aus der Herrengruppe kam auf mich zu und stellte sich als Schulpräsident Brunner vor. Von ihm wurde ich zuerst jedem einzelnen Schulrat persönlich vorgestellt und anschliessend der Lehrerschaft im Gesamten. Natürlich begrüsste ich nun jede Kollegin und jeden Kollegen mit Handschlag. Dabei fiel mir ein grauhaariger Mann mit tiefer Stimme besonders auf. Er stellte sich als Balz Störi vor und nahm sich meiner an. Er erklärte mir den Verlauf des Abends schon bevor wir uns nach dem Anstossen gesetzt hatten: Die Lehrerschaft sässe beisammen und die Schulräte ebenso, je an einem eigenen Tisch. Seit er an diesem Anlass teilnehme, sei dies immer so gewesen. Es gebe auch immer das gleiche Menü: Einen Teller mit Aufschnitt, bei dem oben in der Mitte auf dem Tellerrand ein kleines Würstchen liege. Die links und rechts neben dem Würstchen liegenden Tomatenschnitze und Cornichons gäben dem Teller etwas Farbe. Die verschiedenen Tranchen des Aufschnitts seien auch immer gleich angeordnet. Er würde behaupten, dass die Anzahl der Tranchen auch immer die gleiche sei.
Der Schulpräsident eröffnete den Anlass mit einer kurzen Begrüssungsansprache mit dem üblichen Inhalt: Dankesworte an alle, an scheidende Angestellte im Besonderen; Orientierung über neue Angestellte und Vorkommnisse und Anlässe in der Schule. Die kurze Rede endete mit den Worten: «E Guete!» Gespannt wartete ich auf den beschriebenen Teller, und tatsächlich stellte die Serviertochter – damals nannte man sie noch so – einen Teller vor mich hin, der genau der Beschreibung von Balz entsprach. Ich musste schmunzeln. In den Gesprächen mit meinen Kolleginnen und Kollegen erfuhr ich vieles über die Schule, den Schulrat und die Gepflogenheiten dieses Rates. Balz sagte mir noch, er hoffe, dass ich noch ein weiteres Ritual an diesem Anlass erleben werde. So assen und tranken wir bei angeregter Unterhaltung, bei der ich alle zukünftigen Lehrpersonen ein wenig kennenlernte. Von Balz erfuhr ich, dass auch er in Hätzingen die Sekundarschule besucht hatte und anschliessend am Seminar in Schiers zum Lehrer ausgebildet worden war. Dies war schon einmal eine gute Basis für unser späteres Zusammenarbeiten. Und wirklich: Balz hat für meine Tätigkeiten in Netstal eine bedeutende Rolle gespielt.
Wir bekamen ein Dessert vorgesetzt und konnten Kaffee, Schnaps und andere Getränke einfach bestellen. Plötzlich stand aus dem Behördenkreis ein hagerer Mann auf und kam an den Tisch der Lehrerschaft. Da begab er sich von Zweier-Gruppe zu Zweier-Gruppe und raunte ihnen ins Ohr: "Meine Damen und Herren, der Kredit ist erschöpft!" Balz, der mir gegenübersass, schmunzelte und sagte, dies gehöre auch zum Ritual des Abends. Von nun an mussten also die Getränke selbst berappt werden. Wie wir uns vom Schulrat verabschiedet haben, weiss ich nicht mehr. Die Lehrerinnen und Lehrer verliessen jedenfalls das Lokal miteinander. Es entzieht sich meiner Erkenntnis, wie lange der Schulrat noch zusammensass.
Von zu erledigenden Formalitäten erfuhr ich an diesem Abend nichts und musste auch später weder Ausweise noch Zeugnisse vorlegen. Erst zwanzig Jahre später fand jemand auf der Bildungsdirektion heraus, dass ich gar keine Lehrberechtigung hatte. Diese wurde mir aber sofort erteilt.