Es war an einem Montagmorgen und ich unterrichtete alle Knaben der sechsten Klasse vor der Pause in der alten Turnhalle im Turnen. In der Pause holten etliche Schüler entweder im Konsum oder im Spezereiladen Hänny, die den Pausenplatz vor dem alten Schulhaus säumten, ihr Znüni.
Nach der Pause kamen im Werken sieben Knaben zu mir und erzählten, dass auf dem Pausenplatz eine Tasche mit einem Geldbeutel und eingekaufter Waren aus dem Konsum gestanden habe. Sie vermuteten richtig, dass diese Tasche jemandem gehörte, der sie nach seinem Einkauf neben dem Auto hatte stehen lassen. Die Knaben erklärten mir, dass sie die Tasche samt Inhalt in den Konsum gebracht hätten. Ich konnte sie für ihr Verhalten nur loben und war fast ein wenig stolz auf meine Buben.
Dies änderte sich aber schnell, denn die Frau merkte zuhause sofort, dass sie die Tasche auf dem Schulplatz hatte stehen lassen und fuhr zum Konsum zurück. Dort fragte sie nach der Tasche. Die Verkäuferin händigte sie ihr aus. Die Frau war froh, dass sie ihre Sachen wieder hatte. Erst zuhause schaute sie im Portemonnaie nach, ob alles Geld drin war und musste feststellten, dass eine Hunderternote fehlte. Sofort rief sie im Schulhaus an und wurde an mich weitergeleitet. Da die an der Aktion beteiligten Knaben zum Teil bei meinem Kollegen, der die Parallelklasse unterrichtete, die Schule besuchten, besprach ich mich zuerst mit ihm. Wir kamen überein, dass ich den Knaben eröffnete, dass, wenn die Note am nächsten Morgen in meinem Pult läge, nichts passieren würde. Es würde uns nicht einmal interessieren, wer das Geld genommen hatte. Wenn das Nötli aber nicht da wäre, gäbe es einen Riesenwirbel.
Gespannt öffnete ich am nächsten Morgen meine Pultschublade. Der blaue Schein lag nicht drin. So starteten wir den versprochenen Wirbel mit Einzelverhören und konnten nur herausfinden, dass alle gesehen hatten, dass der Türkenjunge das Portemonnaie in den Händen gehabt und geöffnet hatte. Als ich ihn darauf ansprach, sagte er, das sei richtig, er habe nach einer Adresse oder einem Namen gesucht. Er verneinte aber, dass eine Hunderternote drin gewesen sei. Lediglich eine Zwanzigernote und etwas Münz hätte er gesehen. Ich glaubte ihm. Mit ihm hatte ich in Sachen Geld gute Erfahrungen gemacht. Bei einer Umfrage über die Höhe des Sackgeldes in der Klasse hatten alle gestaunt, weil er angab, dass er von seinem Vater jeden Monat 250 Franken Sackgeld bekomme. Das Staunen liess aber nach, als er erklärte, dass er sämtliche Kleider, Schuhe, Sportausrüstungen und das Velo aus diesem Geld berappen müsse. Er war also gewöhnt, mit Geld umzugehen und deshalb der Klassenkassier. Fürs Klassenlager zog er die Elternbeiträge ein und brachte sie auf die Bank. Nach dem Lager bezahlte er alle Rechnungen, die ich ihm gab und erstellte eine Abrechnung. Ich konnte mir deshalb nicht vorstellen, dass er das Geld genommen hatte.
Unsere Verhöre blieben ohne Resultat, und wir mussten uns weitere Schritte überlegen. Das Gute in unserem kleinen Kanton ist, dass man immer jemanden kennt, den man um Rat fragen kann. So fuhr ich nach Glarus und erzählte dort auf dem Polizeiposten Sepp, einem Polizisten, den ich gut kannte, die ganze Geschichte. Ich musste ihm die Namen der Knaben angeben. Er schrieb sie auf und konnte sofort erkennen, dass es sich um fünf Italiener, einen Türken und einen Schweizer handelte. Beim türkischen Namen fragte er mit einem Unterton, ob es sich um einen Türken handle. Ich erklärte ihm, dass er mich mit einem Messer in den Hals stechen könne, wenn dieser der Täter gewesen sei. Er versprach mir, dass er am folgenden Tag, einem Mittwoch, nach der Pause mit Kollegen vorfahren, die Knaben abholen und zum Verhör auf den Posten in Glarus nehmen würde.
Am abgemachten Mittwoch um halb elf klopfte es an die Schulzimmertüre. Nach dem Öffnen standen zwei Polizisten in Vollmontur im Schulzimmer. Von einer Liste las Sepp die Namen herunter, die ihn auf den Polizeiposten zu begleiten hätten. Es gab lange Gesichter, nur einer grinste und hatte offensichtlich Freude an der Aktion – es war der Türke.
Für die Abgeführten gab es kein Mittagessen. In Einzelverhören wurden die Verdächtigen ausgefragt und in Widersprüche verwickelt, bis am Nachmittag einer zugab, die Hunderternote aus dem Geldbeutel zu sich genommen zu haben. Er konnte sie nicht in mein Pult zurücklegen, weil er in einem Restaurant, in dem an der Wand ein Geldspielautomat hing, die Note gewechselt und mit dem Münz diesen Automaten gefüttert hatte. Nebenbei: Die Wirtin hätte diese Hunderternote nicht wechseln und den Knaben von Gesetzes wegen schon gar nicht am Automaten spielen lassen dürfen.
Du wirst dich fragen, warum ich die Nationalitäten der Knaben angegeben habe. Während meiner Berufszeit haben wir manchmal Diskussionen über «Schweizer gegen Ausländer» geführt. Ich erstickte diese emotionalen Gespräche im Keime, indem ich die Schweizer – es waren ausschliesslich Knaben, die sich bei solchen Themen ereiferten – fragte: "Was könnt ihr dafür, dass ihr in der Schweiz geboren seid?" Da sie keine Antwort wussten, gab ich sie: "Ihr habt einfach Glück gehabt!" Damit war die Diskussion jeweils zu Ende. Die Episode von der Tasche auf dem Schulhausplatz diente mir später manchmal bei Streitereien zwischen Schweizern und Ausländern die Situation ohne Vorurteile etwas nüchterner zu betrachten.
Das Ende dieser Geschichte ahnst du wahrscheinlich: Der Dieb war der Schweizer.